… oder die Pädagogik der Paradoxie

Alles ist gesagt, alles ist geschrieben worden über Friedrich Schiller (1759-1805). Tausende Wissenschaftler, Künstler und verstehen wollende Leser und Zuschauer haben ihn betrachtet und sind von ihm begeistert worden. Man kann ihn aus vielen Blickwinkeln sehen – den „Dichter der Freiheit“, „Stürmer und Dränger“, „Räuber- Autoren“, „Rebellen“, nicht zuletzt „Weimarer Klassiker“.

Was bleibt uns also noch zu analysieren, zu betrachten, noch herauszufinden? Es gibt nicht den Maler Schiller, den Biologen und Botaniker, wie sein Freund Goethe es war. Politisch hielt sich Schiller zurück; als er 1798 sein Ehrenbürgerdiplom der Französischen Republik vom August 1792 in den Händen hielt – „aus dem Reich der Toten“ zugesandt – gratulierte ihm Freund Goethe im März 1798 voll bitterem Spott. Vor der geplanten Intervention, den französischen König vor der Guillotine zu retten, bewahrte ihn das Eiltempo der „elenden französischen Schindersknechte“ (Brief an Körner 8.2.1793) Von nun an wird sein politisch-revolutionärer Geist durchdachter, psychologisch verfeinerter, er wird sich den verlorenen Figuren der Geschichte widmen und Gründe für Gewalt und Scheitern in den dunklen Tiefen der menschlichen Seele zu finden wissen. Immer auch mit Ausnahmen.

Dieser Schiller als Gesamtkunstwerk ist nicht leicht zu fassen. Neben dem Helden steht der Antagonist, neben Karl der Franz, neben Alba der Posa, neben Tell der Tyrann Gessler – alles zerklüftete Charaktere – alles Verlierer der Geschichte, Opfer von Vernunft ohne Herz oder umgekehrt. Warum?

Es ist das Paradoxe, was den Kantianer Schiller auszeichnet. Geboren nicht am Sonntag wie Goethe, sondern an einem Samstag (10.11.1759), muss der gesundheitliche schwache und blasse Freigeist ab Januar 1773 die „Militär-Pflanzschule“ des Herzogs Karl Eugen von Württemberg in Stuttgart besuchen. In eine Uniform wird der schnellwachsende Sommersprössling gesteckt, hat „wegen seinem dissoluten und langsamen Wesen aber öfter Ermahnungen nötig“ (Zeugnis des Rittmeisters Faber vom 16. 11. 1773) aber „er erkennt seine Fehler gern und gibt sich Mühe, sie zu verbessern.“

1774 beginnt er gegen seinen eigentlichen Wunsch ein Jurastudium, liest heimlich die neuesten Dichtungen seiner Zeit. Beides wird ihm später helfen, die großen tragischen Helden der Geschichte in der umfassenden Persönlichkeitsanalyse seines dramatischen Vorbildes Shakespeare (1564-1616) zu betrachten und zu beschreiben. In einem Brief an Goethe vom 26. April 1799 merkt Schiller an: „Indes habe ich mich an eine Regierungsgeschichte der Königin Elisabeth gemacht und den Prozess der Maria Stuart zu studieren angefangen. Ein paar tragische Hauptmotive haben sich mir gleich dargeboten und mir großen Glauben an diesen Stoff gegeben, der unstreitig sehr viele dankbare Seiten hat.“
Tragische Hauptmotive sind es bei Schiller, die es für ihn galt einzusetzen, um den Menschen zu bessern. Scheitern doch in den ersten Dramen seine Figuren an der unerfüllten oder nichtgewährten Liebe: „Die Räuber“ 1782, „Die Verschwörung des Fiesko zu Genua“ 1783, „Kabale und Liebe“ ursprünglich „Luise Millerin“, auf Ifflands Intervention hin Ende Februar 1784 publikumswirksam umbenannt und schließlich der „Don Carlos“, welcher nach der Hamburger Uraufführung 1787 den vorläufigen Höhepunkt der libertären Beziehungsdramen im Schaffen Schillers darstellte.

„Vielmehr lehrt die Erfahrung, dass der unangenehme Affekt den größeren Reiz für uns habe und also die Lust am Affekt mit seinem Inhalt gerade in umgekehrtem Verhältnisse stehe. Es ist eine allgemeine Erscheinung in unsrer Natur, dass uns das Traurige, das Schreckliche, das Schauderhafte selbst mit unwiderstehlichem Zauber an sich lockt, dass wir uns von Auftritten des Jammers, des Entsetzens mit gleichen Kräften weggestoßen und wieder angezogen fühlen.“ (Friedrich Schiller, Über die tragische Kunst. Erschienen in der „Neuen Thalia“, Anfang März 1792)

Daher also die Vorliebe für tragische Stoffe. Schiller, der Dichter der „Freude, schöner Götterfunken“ – in Leipzig erdacht nach Zusammentreffen mit dem Freund Körner 1785, Ende des Jahres in Dresden vollendet – bleibt er auch hier zutiefst menschlich, ein „Mittelding zwischen Engel und Vieh“ (Zitat aus Schillers dritter, erfolgreicher Dissertation 1780), der dennoch freimütig bekennt, dass er an die „Wirklichkeit einer uneigennützigen Liebe glaubt“ („Philosophische Briefe“ 1786)

Ein Schiller. Schwer zu verstehen. Hin und hergerissen zwischen seinen Begabungen, Fähigkeiten (Kompetenzen würde man wohl heute sagen) und nicht zuletzt Leidenschaften. Sein Aktionsradius bleibt gegenüber seinem späteren Pendant Goethe (1749-1832) eher klein – Stuttgart, Mannheim, Leipzig, Dresden, dann ins Thüringische (Bauerbach, Jena), bis er schließlich Anfang Dezember 1799 die letzte Station seines kurzen Lebens erreicht: Weimar. Mit seiner Frau Charlotte von Lengefeld (seit Februar 1790 ist Schiller verheiratet) bezieht er eine kleine Wohnung, nicht ferne der anderen beiden großen Geister der 6000-Seelengemeinde Weimar: Christoph Martin Wieland (1733-1813) und Johann Gottfried Herder (1744-1803). Und in der Nähe des Geheimrates Goethe, mit dem es Anfang September 1788 zur ersten vorsichtig-skeptischen Annäherung kommt. „Freilich war die Gesellschaft zu groß und Alles auf seinen Umgang zu eifersüchtig, als das ich viel allein mit ihm hätte sein oder etwas anders als allgemeine Dinge mit ihm sprechen können.“ (Schreibt Schiller noch an Körner am 12.9.1788) Das sollte sich ändern.

Anfang 1788 fühlt Schiller sich dramatisch ausgeleert. Die revolutionär-demokratische Phase seines Schaffens – so ungenau der Begriff beim „Ästheten des Humanismus“ auch sein mag – ist abgeschlossen. Zugleich vermisst er die Wirkung beim Publikum, sichtbare nationalrevolutionäre Zeichen. Stets in finanziellen Nöten – erst in der Weimarer Zeit (1799-1805) sollten diese der Vergangenheit angehören – setzt er die Prioritäten anders: „Es gibt Arbeiten, bei denen das Lernen die Hälfte, das Denken die andere Hälfte tut. – Zu einem Schauspiel brauche ich kein Buch, aber meine ganze Seele und alle meine Zeit. Zu einer historischen Arbeit tragen mir Bücher die Hälfte bei. Die Zeit, welche ich für beide verwende, ist ungefähr gleich groß. Aber am Ende eines historischen Buchs habe ich Ideen erweitert, neue empfangen; am Ende eines verfertigten Schauspiels vielmehr verloren.“ (An Körner 18.1.1788)

Auf Vermittlung Goethes tritt Schiller am 26.5.1789 eine Ehrenprofessur für Geschichte an der Universität Jena an. Groß ist die Begeisterung der ca. 500 Studenten zur abendlichen Stunde. „Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?“ Der neue „Professor für Philosophie“ – der Ordinarius für Geschichte wusste zu verhindern, dass Schiller den Titel im Geschichtsfach führen durfte – betont den sinnstiftenden Charakter der Geschichtsbetrachtung und folgt dem optimistischen Geschichtsbild der Aufklärung, ergänzt durch die Prinzipien von Kausalität und Zielführung (Teleologie): „Selbst in den alltäglichsten Verrichtungen des bürgerlichen Lebens können wir es nicht vermeiden, die Schuldner vergangener Jahrhunderte zu werden; die ungleichartigsten Perioden der Menschheit steuern zu unsrer Kultur, wie die entlegensten Weltteile zu unserm Luxus.“ Der Historiker Schiller ist in erster Linie Philosoph und fragt nach dem Woher-kommen-wir? Unmittelbar darauf Warum? Und ein Geschichtsphilosoph, der mit dem Blick nach dem Wohin? forscht. Paradox.

Er richtet mit dem Abschluss seiner „Geschichte des Dreißigjährigen Krieges“ 1792 den Blick auf die kriegerischen Wirren im revolutionären Frankreich. Von dort aus war am 20. April desselben Jahres die bewaffnete Auseinandersetzung in Form der Koalitionskriege ausgebrochen. Dessen späterer Held Napoléon Bonaparte (1769-1821) erwähnte Schiller mit keinem offiziellen Wort, aus Vorsicht und weil der despotische, selbstherrliche Korse ähnlich wie Zeitgenosse Beethoven Schiller zutiefst abstieß.

Die Revolution in Paris und ganz Frankreich 1789 hatte Schiller – wie viele seiner Zeit – zuerst berührt und innerlich aufgewühlt. Musste sich nicht einem wie ihm der sein Erstlingswerk „In Tyrannos“ – gegen fürstliche Despoten – untertitelte, damit eine neue Welt auftun?

Der weltverändernde Geist der Pariser Revolutionäre hielt nach dem Verständnis des offene Brüche vermeidenden Schillers mit humanistischen Vernunftgedanken nicht Schritt. In seinem Aufsatz „Die Gesetzgebung des Lykurg und Solon“, erschienen 1790, hatte Schiller mit deutlichem Blick auf die französischen Zustände eine Absage erteilt: „Auf eine noch empörendere Art wurde das allgemeine Menschengefühl in Sparta ertötet und die Seele aller Pflichten, die Achtung gegen die Gattung, ging unwiederbringlich verloren. Ein Staatsgesetz machte den Spartanern die Unmenschlichkeit gegen ihre Sklaven zur Pflicht; in diesen unglücklichen Schlachtopfern wurde die Menschheit beschimpft und misshandelt. In dem spartanischen Gesetzbuch selbst wurde der gefährliche Grundsatz gepredigt, Menschen als Mittel und nicht als Zweck zu betrachten – dadurch wurden die Grundfesten des Naturrechts und der Sittlichkeit gesetzmäßig eingerissen.“
Unmenschlichkeit, „verlorene Achtung gegen die Gattung“ – das konnte nicht Schillers Sache sein.

„Omnium rerum homo mensura est“ – Dass der Mensch Maß aller Dinge, aller Betrachtung und allen gesellschaftlichen Fortschritts sein sollte, zeigt Schiller in seinem erziehungstheoretisch wohl bedeutendsten Werk. In den „Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen“. Ein dänischer Prinz, Friedrich Christian II. von Augustenburg, hatte Schiller Ende 1791 für 3 Jahre 1000 Taler Jahrespension angeboten, damit sich der fiebernde und an Atemnot Leidende dauerhaft erholen konnte.

Stipendiat Schiller bedankt sich: „Aber sollte ich von der Freiheit, die mir von Ew. Durchlaucht verstattet wird, nicht vielleicht einen bessern Gebrauch machen können, als Ihnen meine Ideen von Schönheit und schöner Kunst vorzulegen? Ist es nicht außer der Zeit, sich um die Bedürfnisse der ästhetischen Welt zu bekümmern, wo die Angelegenheiten der politischen ein so viel näheres Interesse darbieten? (Brief an den Prinzen v. Augustenburg, 13.7.1793)
Er stellt mit diesen „Briefen zur ästhetischen Erziehung des Menschen“ (erstmals veröffentlicht in den „Horen“ 1795) gewissermaßen ein evolutionäres Gegenkonzept zum Zwangsdiktat der Aufklärung, sittlich-moralischer Verrohung und undemokratischen Handelns vor. Gegen jede Schreckensherrschaft. „Der Mensch kann sich aber auf eine doppelte Weise entgegengesetzt sein: entweder als Wilder, wenn seine Gefühle über seine Grundsätze herrschen; oder als Barbar, wenn seine Grundsätze seine Gefühle zerstören. Der Wilde verachtet die Kunst und erkennt die Natur als seinen unumschränkten Gebieter; der Barbar verspottet und entehrt die Natur, aber verächtlicher als der Wilde fährt er häufig genug fort, der Sklave seines Sklaven zu sein. Der gebildete Mensch macht die Natur zu seinem Freund und ehrt ihre Freiheit, indem er bloß ihre Willkür zügelt.“ (4. Ästhetischer Brief)

Schiller findet die Antwort. Im spielerischen Umgang mit Vernunft und Gefühl. „Denn, um es endlich auf einmal herauszusagen, der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt. Dieser Satz, der in diesem Augenblicke vielleicht paradox erscheint, wird eine große und tiefe Bedeutung erhalten, wenn wir erst dahin gekommen sein werden, ihn auf den doppelten Ernst der Pflicht und des Schicksals anzuwenden; er wird, ich verspreche es Ihnen, das ganze Gebäude der ästhetischen Kunst und der noch schwierigern Lebenskunst tragen.“ (15. Ästhetischer Brief)
Pflicht als Neigung oder innere Freiheit als Einsicht in die Notwendigkeit – so wird es später Hegel (1770-1831) formulieren – paradox wieder. Wahrheit und Geist machen den Menschen frei.

Schillers moralphilosophischer Idealismus findet viele Anhänger im aufgeklärten Adel und unter fortschrittlichen Bürgern. Und er gewinnt neue Freunde. Der wohl berühmteste unter ihnen ist Johann Wolfgang Goethe (1749-1832). Der beschreibt die schicksalhafte Wiederbegegnung beider am 20.7.1794 in Jena als „glückliches Ereignis“. Beide, Goethe und Schiller, erkennen schnell, dass der eine dem anderen die jeweils fehlende Hälfte ist: „Sie suchen das Notwendige der Natur, aber Sie suchen es auf dem schwersten Wege, vor welchem jede schwächere Kraft sich wohl hüten wird. Sie nehmen die ganze Natur zusammen, um über das Einzelne Licht zu bekommen; in der Allheit ihrer Erscheinungsarten suchen sie den Erklärungsgrund für das Individuum auf. Von der einfachen Organisation steigen Sie, Schritt vor Schritt, zu der mehr verwickelten hinauf, um endlich die verwickeltste von allen, den Menschen, genetisch aus den Materialien des ganzen Naturgebäudes zu erbauen.“ (Schiller an Goethe, 23.8.1794)

Bei Schiller ist es umgekehrt. Vom ursprünglichen Wesen des Menschen als „Mittelding zwischen Engel und Vieh“ – hin zur natürlichen, zum Mensch veredelten Erscheinung. Schiller und Goethe gelingt es jedoch, die verschiedene Methodik ihrer ontogenetischen Analyse produktiv erscheinen und werden zu lassen, sie gelangen in ihrer Arbeitsfreundschaft beide zur absoluten künstlerischen Reife. Miteinander. „Balladenjahr“ (1797), Schillers „Wallenstein“ (Uraufführung 1798/99), „Maria Stuart“ (1800) bis hin zu Goethes „Faust“ (erschienen 1808), zu dem Schiller den Freund ermutigt und kritisch begleitet – nur einige Beispiele der gemeinsamen Schaffensperiode 1794-1805.

Schiller arbeitet bis zuletzt. Streicht wie im Hausaufgabenheft die vollendeten Dramen und sonstigen meist lyrischen Arbeiten ab. Wohl wissend, dass er gebraucht, wohl aber zu seiner Zeit schwer verstanden werden wird. Sich sein künstlerischer Humanismus, seine humanistische Kunst, das Suchen im paradoxen, schwer verständlichen Handeln des Menschen zwischen Trieben, Affekten und Verstand bestenfalls auch nur auf der Bühne verwirklichen lässt. In seinem letzten unvollendeten Werk „Demetrius“ (1805) finden sich die Zeilen:

„Was ist die Mehrheit? Mehrheit ist der Unsinn, Verstand ist stets bei wen’gen nur gewesen. Man soll die Stimmen wägen und nicht zählen; der Staat muss untergehen, früh oder spät, wo Mehrheit siegt und Unverstand entscheidet.“

Jens-Uwe Jopp