„Wir erfahren alle Anstrengungen und Drangsale dieser Gesellschaft“

J: Herr Schiller, wie geht es Ihnen heute?

S: „Leider nötigen mich meine Krämpfe gewöhnlich, den ganzen Morgen dem Schlaf zu widmen, weil sie mir nachts keine Ruhe lassen, und überhaupt wird es mir nie so gut, auch den Tag über auf eine bestimmte Stunde sicher zählen zu dürfen.“[1]

J: Herr Schiller, Sie sind als Denker bekannt. Als welche Art Mensch würden Sie sich bezeichnen?

S: „Mein Verstand wirkt eigentlich mehr symbolisierend, und so schwebe ich als eine Zwitter-Art …“

J: Zwitter-Art?

S: „ …zwischen dem Begriff und der Anschauung, zwischen der Regel und der Empfindung, zwischen dem technischen Kopf und dem Genie.“[2]

J: Sind Sie Schriftsteller oder eher Moralphilosoph?

S: „Dies ist es, was mir, besonders in früheren Jahren, sowohl auf dem Felde der Spekulation als der Dichtkunst ein ziemlich linkisches Ansehen gegeben; denn gewöhnlich übereilte mich der Poet, wo ich philosophieren sollte, und der philosophische Geist, wo ich dichten wollte.“[3]

J: Mal eine persönliche Frage. Wie ehrgeizig sind Sie?

S: „Eine große und allgemeine Geistesrevolution werde ich schwerlich Zeit haben, in mir zu vollenden aber ich werde tun was ich kann, und wenn endlich das Gebäude zusammenfällt, so habe ich doch das Erhaltungswerte aus dem Brande geflüchtet.“[4]

J: Herr Schiller, Sie leben dennoch. Zwischen den Zeiten. In einer Welt des Umbruchs. Stört Sie das?

S: „Mir ekelt vor diesem tintenklecksendem Säkulum …“[5]

J: So schlimm?

S: „Mitten im Schoße der raffiniertesten Geselligkeit hat der Egoism sein System gegründet, und ohne ein geselliges Herz mit herauszubringen, erfahren wir alle Ansteckungen und alle Drangsale der Gesellschaft.“[6]

J: Kennen Sie Gründe?

S: „Der Nutzen ist das große Idol der Zeit, dem alle Kräfte fronen und alle Talente huldigen sollen.“[7]

J: Was ist die Folge?

S: „Der zahlreichere Teil der Menschen wird durch den Kampf mit der Not viel zu sehr ermüdet und abgespannt, als dass er sich zu einem neuen und härteren Kampf mit dem Irrtum aufraffen sollte.“[8]

J: Das klingt nicht gut. Haben Sie eine Alternative zur Hand?

S: „Eine physische Möglichkeit scheint gegeben, das Gesetz auf den Thron zu stellen, den Menschen endlich als Selbstzweck zu ehren, und wahre Freiheit zur Grundlage der politischen Verbindung zu machen.“[9]

J: Glücklicherweise sind Sie nicht allein, werden verehrt, von Freunden, von Frauen – gleich zwei lieben Sie…Wollen Sie Ihnen auf diesem Wege etwas mitteilen?

S: „Meine Seele schlingt sich um euch. Könnten meine Arme euch umfassen! Könnte ich euer schlagendes Herz an dem meinigen fühlen! In euren Augen eure liebevolle, mir entgegen eilende Seele begrüßen! Ach das selige unaussprechliche Glück der Gegenwart, des lebendigen Besitzes! Die Gedanken mahlen es, aber sie ahmen es nicht nach.“[10]

J: Sie glauben an die humanistische Kraft des Individuums. An die Liebe zu den Menschen. Und in der Schule?

S: „Man macht sich freilich seine gesellschaftlichen Pflichten ungemein leicht, wenn man dem wirklichen Menschen, der unsere Hilfe auffordert, in Gedanken den Ideal-Menschen unterschiebt …“[11]

J: Das geht auch an die Pädagogen.

S: „Es ist ein sehr verderblicher Missbrauch, der von dem Ideal der Vollkommenheit gemacht wird, wenn man es bei der Beurteilung anderer Menschen, und in den Fällen, wo man für sie wirken soll, in seiner ganzen Strenge zum Grund legt.“[12]

J: Kompliziert. Können Sie einmal formulieren, was Sie von einem guten Lehrer erwarten?

S: „Strenge gegen sich selbst, mit Weichheit gegen andere verbunden, macht den wahrhaft vortrefflichen Charakter aus. Aber meistens wird der gegen andere strenge Mensch es auch gegen sich selbst, und der gegen sich selbst strenge es auch gegen andere sein; weich gegen sich und streng gegen andere ist der verächtlichste Charakter.“[13]

J: Man kann die Lehrer nicht für alles verantwortlich machen …

S: „Die Aufklärung des Verstandes, deren sich die verfeinerten Stände nicht ganz mit Unrecht rühmen, zeigt im Ganzen so wenig einen veredelnden Einfluss auf die Gesinnungen, dass sie vielmehr die Verderbnis durch Maximen befestigt.“[14]

J: Nun zu den Schülern. Wie ist es da?

S: „Der Mensch kann sich auf eine doppelte Weise entgegengesetzt sein: entweder als Wilder, wenn seine Gefühle über seine Grundsätze herrschen; oder als Barbar, wenn seine Grundsätze seine Gefühle zerstören.“[15]

J: Starker Tobak, Herr Schiller …

S: „Der gebildete Mensch macht die Natur zu seinem Freund, und ehrt ihre Freiheit, indem er bloß ihre Willkür zügelt.“[16]

J: Davon ist der Mensch…

S: „Weit entfernt, die Menschenwürde in anderen zu ehren, und er eigenen wilden Gier sich bewusst, fürchtet er sie in jedem Geschöpf, das ihm ähnlich sieht. Nie erblickt er andere in sich, nur sich in andern, und die Gesellschaft, anstatt ihn zur Gattung auszudehnen, schließt ihn nur enger und enger in sein Individuum ein.“[17]

J: Das hört sich wieder äußerst deprimierend an. Was kann der Lernende tun?

S: „In seinen Taten malt sich der Mensch …“[18]

J: Sie wollen den präsenten, den anwesenden Schüler …

S: „Die Natur fängt mit dem Menschen nicht besser an als mit ihren übrigen Werken: sie handelt für ihn, wo er als freie Intelligenz noch nicht selbst handeln kann. Aber eben das macht ihn zum Menschen, dass er bei dem nicht stillsteht, was die bloße Natur aus ihm machte, sondern die Fähigkeit besitzt, […] das Werk der Not in ein Werk seiner freien Wahl umzuschaffen und die physische Notwendigkeit zu einer moralischen zu erheben.“[19]

J: Wie soll man das schaffen?

S: „Beherrschung der Triebe durch die moralische Kraft ist Geistesfreiheit, und Würde heißt ihr Ausdruck in der Erscheinung.[20] Wenn nun der Wille Selbständigkeit genug besitzt, dem vorgreifenden Naturtriebe Schranken zu setzen und gegen die ungestüme Macht desselben seine Gerechtsame zu behaupten, so bleiben zwar alle jene Erscheinungen in Kraft, die der aufgeregte Naturtrieb in seinem eigenen Gebiet bewirkte, aber alle diejenigen werden fehlen, die er in einer fremden Gerichtsbarkeit eigenmächtig hatte an sich reißen wollen. Die Erscheinungen stimmen also nicht mehr überein, aber eben in ihrem Widerspruch liegt der Ausdruck der moralischen Kraft.“[21]

Jens-Uwe Jopp


[1] Friedrich Schiller, Brief an Goethe, 7. 9. 1794
[2] Friedrich Schiller, Brief an Goethe, 31. 7. 1794
[3] ebenda
[4] ebenda
[5] „Die Räuber“, I, 2, 1781
[6] „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“, 5. Brief, 1793
[7] „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“, 2. Brief, 1793
[8] „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“, 8. Brief, 1793
[9] „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“, 5. Brief, 1793
[10] Friedrich Schiller, Brief an Charlotte v. Lengefeld und Caroline v. Beulwitz, 16. 11. 1789
[11] „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“, 13. Brief, 1793
[12] ebenda
[13] ebenda
[14] „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“, 5. Brief, 1793
[15] „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“, 4. Brief, 1793
[16] ebenda
[17] „Über die ästhetische Erziehung des Menschen, 24. Brief, 1793
[18] „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“, 5. Brief, 1793
[19] „Über die ästhetische Erziehung des Menschen, 3. Brief, 1793
[20] „Über Anmut und Würde, Stuttgart 1971, S. 119
[21] ebenda, S. 120f.